Donnerstag, 4. August 2016

Jenseits der Schamgrenze



In Österreich häufen sich dem Vernehmen nach die Vorfälle, bei denen muslimischen Frauen Kopftücher heruntergerissen und ihre Kinder bespuckt werden. Die Zahl solcher und ähnlicher Übergriffe geht angeblich bereits in die Hunderte. In Wiener Neustadt wurde dieser Tage aus einem fahrenden Auto heraus auf eine Gruppe Flüchtlinge geschossen. Der Täter habe eine Softgun-Maschinenpistole ausprobieren wollen, heißt es tags darauf in einer Zeitung. Nicht in den Griff zu kriegen sind die zigtausenden Hasspostings rund um das Thema Flüchtlinge im Internet, in denen Menschen attackiert, denunziert und bedroht werden.

In den vergangenen Monaten scheinen alle Grenzen gefallen und alle Stricke gerissen zu sein, die bisher unserem gesellschaftlichen Leben Richtung und Anstand gaben. Was in diesen Monaten in diesem Land passiert, ist immer öfter erschreckend und oft zu nichts denn zum Schämen.

Überall werden die Masken fallen gelassen. Immer weniger Menschen nehmen sich ein Blatt vor den Mund, wenn es um das Thema Flüchtlinge geht. Unverhohlen tut man inzwischen kund, was man glaubt, was zu tun ist. Da ein verächtlicher Sager und dort ein vielsagendes Grinsen und Ratschläge, nach denen niemand gefragt hat. Die Terroranschläge in Frankreich und in Deutschland und die Vorgänge in der Türkei und das Verhalten vieler Türken in Österreich haben in den vergangenen Wochen die Stimmung nur weiter zugespitzt.

In diesem Umfeld gilt Helfen in diesem Land nicht mehr viel. Wer hilft, wird nicht mehr geschätzt und ist nicht mehr angesehen, sondern ist in den vergangenen Monaten unter Rechtfertigungsdruck geraten, wird angefeindet und mitunter gar attackiert. Gleiches gilt für die Organisationen, die sich in diesem Umfeld engagieren. "Keinen Cent bekommt ihr mehr gespendet", hört man dort immer öfter.

Wer noch hilft, ist ruhig geworden. Man ist froh, wenn man nicht angepöbelt wird und seine Arbeit unbehelligt tun kann. Man hat gelernt, viel auf sich zu nehmen und manches zu ertragen.

Es scheint gängige Meinung geworden zu sein, dass es sich bei den Hilfesuchenden ausschließlich um Wirtschaftsflüchtlinge handelt, die sich auf unsere Kosten ein besseres Leben machen wollen -auch in Kreisen, die sich zugute halten, ein christliches Leben zu führen. Völlig vergessen ist dabei inzwischen, dass die meisten dieser Menschen in ihrer Heimat durch Krieg und Terror alles verloren haben, dass sie Zuflucht suchen in Europa, um überleben zu können. Ausgeblendet wird, dass es um Not geht und ums nackte Überleben. Längst unterscheidet man nicht mehr, vielleicht auch, weil es einfacher ist und man sich der Aufgabe zu helfen so leichter entziehen kann. Es scheint, als gäbe es niemanden mehr, der Kraft und Mut aufbringt, dieser Stimmung Einhalt zu gebieten und die Motive der Flüchtlinge und die Schicksale, die dahinter stehen, der breiten Öffentlichkeit zu verdeutlichen. In der öffentlichen Diskussion geht es nur mehr um Abgrenzung, Von den Kirchen ist wenig zu hören, von den Intellektuellen auch und von der Politik wird das gleich gar nicht mehr erwartet. Pfarrer lavieren herum, wenn es um Hilfe geht, Lokalpolitiker auch. Man will es sich mit niemandem verscherzen im Ort und in der Gemeinde. Diskussionen werden vermieden, klare Positionen auch.

Verständnis für Fremde, für Flüchtlinge gar, hatte es in diesem Land noch nie leicht. So wie es jetzt ist, war es aber noch nie. Die Stimmung ist aufgeheizt, längst ist jede Differenzierung verloren gegangen. Ängste haben Oberhand gewonnen. Wir haben immer noch nicht gelernt, mit der Situation umzugehen.

Dass im vergangenen Jahr viel schief gelaufen ist beim Umgang mit den Flüchtlingsströmen aus dem Nahen Osten, dass man zu lange zugeschaut hat, dass man die Bedenken der Bevölkerung nicht ernst genommen hat und auch heute immer noch keine schlüssigen Konzepte hat, wie man mit den zigtausenden Menschen umgehen könnte, mag das erklären. Das aber ist kein Grund, alle Grundsätze und Ideen, auf denen unsere Gesellschaft fußt, und damit gleich auch jeden Anstand mit einem Mal fahren zu lassen.

Es tun sich Abgründe auf in der Gesellschaft und im Land. Die Töne, die immer öfter zu hören sind, lassen einen erschrecken. Und die Beiläufigkeit mit der damit umgegangen wird, erst recht. Und auch die Selbstverständlichkeit, mit der Respektlosigkeit, Verachtung und Verhöhnung hingenommen werden. Achselzuckend und jenseits jeder Schamgrenze.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 4. August 2016

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