Donnerstag, 3. Dezember 2015

Die andere Flucht



Wirtschaftsflüchtlinge gelten nicht viel in unserem Land. Menschen, die nicht unmittelbar von Terror und Anschlägen bedroht sind, sondern Menschen, die kein Leben in zertrümmerten Regionen voller Gewalt, Anarchie und behördlicher Willkür wollen. Die es besser haben wollen für sich und für ihre Kinder. Die Perspektive und Chancen haben wollen und nicht nur Aussicht auf ein Leben in Angst, Sorge und Elend. Wirtschaftsflüchtlinge gelten vielen hierzulande als so etwas wie Flüchtlinge zweiter Klasse. Flüchtlinge, so der Vorwurf, der im Begriff Wirtschaftflüchtlinge mitschwingt, die nur ein leichteres und besseres Leben suchen und die sich vor der Verantwortung im eigenen Land drücken.

Genau betrachtet freilich unterscheidet sich das Muster, dem sie folgen, kaum von jenem, das auch bei uns bekannt ist. Man sucht sein Leben und die Lebensumstände zu verbessern. Wenn das nicht im eigenen Dorf oder in der eigenen Stadt möglich ist, sucht man es anderswo. Und genau betrachtet ist auch das Land, in dem man so gerne mit dem Finger auf die Wirtschaftsflüchtlinge zeigt, selbst voll von Menschen, die ein ähnliches Verhalten an den Tag legen. Und das, obwohl es ganz sicher keinem so schlecht geht und bei keinem der Druck so groß ist wie bei jenen, die man derzeit europaweit als Wirtschaftsflüchtlinge zuweilen nachgerade abkanzelt.

Weil oben im Waldviertel und im Mühlviertel, unten im Burgenland oder in der Oststeiermark oder in den Gebirgstälern von Salzburg und Tirol zu wenige Arbeitsplätze und die Lebensumstände schwierig waren (und sind), war es immer so, dass die Familienväter zuerst in die großen Städte ausgependelt sind, um Geld für die Familie zu verdienen. Und irgendwann war es dann so weit, dass die Familie nachgeholt wurde. Tag für Tag oder Woche für Woche nehmen hundertausende Österreicherinnen und Österreicher oft stundenlange Fahrten zu ihren Arbeitsplätzen in Kauf, weil es in ihrer Region nichts Passendes gibt und es an vielem fehlt.

Viele gehen noch weiter, weil sie in Österreich für sich keine rechte Perspektive sehen. Sie gehen ins Ausland, weil sie dort mehr verdienen, weil sie dort weniger Steuern zahlen, weil sie dort eher die Möglichkeit sehen, sich und ihre Vorstellungen von einem guten Leben zu verwirklichen. 25.000 Österreicher verlassen jährlich das Land. Mehr als 200.000 Österreicher leben irgendwo in Europa. Drei von vier davon suchen, so wie jetzt die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, ihr Glück in Deutschland. Und längst denkt man auch in vielen heimischen Unternehmungen und Konzernen an Flucht. Man hat es satt, von der Politik ständig Prügel vor die Füße geworfen zu bekommen, man hat die Bürokratie satt, die Auflagen und die Vorschriften und die hohe Steuerlast. Man fühlt sich gebremst und gehemmt und ohne viel Unterstützung. Und manche fühlen sich nachgerade vertrieben.

Längst macht diese Entwicklung Österreich Probleme. Sie reichen von der Entsiedelung von Regionen, von teuren Herausforderungen für den Wohnund Siedlungsbau und für die Infrastruktur bis tief hinein in die Kernzonen der Wirtschaft. Der Wirtschaftsstandort Österreich gilt vielen inzwischen als massiv bedroht und Arbeitsplätze sind in Gefahr. Immer größer wird die Sorge, dass vor allem viele Hochqualifizierte das Land verlassen, weil sie hier für sich kaum Perspektiven sehen und weil anderswo die Rahmenbedingungen besser sind.

Die Politik kommt in ihren Bemühungen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, nicht recht voran. Auch, weil das Bewusstsein dafür nicht recht entwickelt ist. Da bremst man allemal lieber, als dass man Wünsche und Bedürfnisse unterstützt. Da bringt man allenfalls kleine Verbesserungen zustande, nicht aber die großen Würfe. Lieber hofft man, dass sich alles von selbst in Wohlgefallen auflöst und irgendwie gut wird.

In Österreich sei viel Substanz da, es werde aber wenig draus gemacht, verlautet erst kürzlich vom Unternehmensberater McKinsey. Das Potenzial werde nicht ideal genutzt. Wirtschaftsflüchtlinge gehören wohl zu diesem Potenzial dazu.

Was das bringen kann, zeigt sich im Fußball. An den Erfolgen von Österreichs Fußballnationalmannschaft erbaut sich derzeit das ganze Land. An den Leistungen von Leuten wie David Alaba, Marko Arnautovic, Zlatko Junuzovic und Rubin Okotie - allesamt Nachkommen von hierzulande oft so gering geschätzten Wirtschaftsflüchtlingen.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 3. Dezember 2015

1 Kommentar:

  1. Gratuliere zu diesem präzisen Kommentar, der das Thema in kurzen Worten goldrichtig auf den Punkt bringt.
    Dr. Stefan Prokop, Perchtoldsdorf

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