Donnerstag, 12. November 2015

Dreistigkeit blüht



Der Chef eines großen heimischen Handelskonzerns, der sich gerne und medienwirksam gegen TTIP ins Zeug legt, sorgte dieser Tage in den sozialen Netzwerken für Häme. Hohe Standards nützten niemandem, wenn keiner mehr AMA-Ware kaufe, weil Hormonfleisch oder Milch als Folge des Handelsabkommens 50 Prozent billiger seien, wird er in den Zeitungen zitiert. Das reizte manchen Agrarier zu Widerspruch, gilt doch gerade der Konzern dieses Herrn vielen als der härteste Verhandler im Land, wenn es darum geht, die Lebensmittelpreise nach unten zu drücken. Flugs wurden ihm auf Facebook Ausschnitte von Inseraten just seines eigenen Konzerns präsentiert, in denen Schweinsschnitzel mit AMA-Gütesiegel und viele andere Lebensmittel um
-50%" angeboten werden. "Was ich aber gar nicht verstehe", heißt es im Posting dazu, dass dieses Unternehmen kritisiert, dass Importindustrieware "um die Hälfte billiger wäre als AMA-Qualitätsprodukte und in der gleichen Zeitung werden die AMA-Lebensmittel mit minus 50 Prozent angepriesen". Der nicht unrichtige Schluss daraus, den der Poster dem Handels-Herren unter die Nase rieb: "Nach dieser Logik ist die Preispolitik des Handels mindestens gleich schlecht für die heimische Landwirtschaft wie TTIP."

Der heimische Lebensmittelhandel und manche seiner Bosse sind besonders augenscheinliche Beispiele dafür, mit welcher Dreistigkeit man hierzulande mitunter Stimmung und Geschäft zu machen versucht. Dreistigkeit, die sich um keine Verantwortung schert und auch nicht viel um Werte wie Ehrlichkeit, Verantwortung und schon gar nicht um das, was man sonst selbst gerne vor sich öffentlichkeitswirksam als Leitbild und Grundsatz herträgt.

Der heimische Lebensmittelhandel hat es mit seinen Verkaufsprogrammen auf die Spitze getrieben, in denen man imageträchtige heimische Produkte in die Regale legt und keine Scheu hat, gleich daneben mit Billigstprodukten aus industrieller Landwirtschaft genau den Produzenten von ersteren das Leben schwer zu machen. In vielen anderen Bereichen ist es freilich nicht anders.

Dreistigkeit blüht allerorten auf. In vielen Bereichen und in vielen Formen. Und da muss man nicht erst den Volkswagen-Konzern im Mund führen, der Millionen und Abermillionen Autofahrer und die Umweltpolitiker rund um den Globus ohne mit der Wimper zu zucken und weitab von den in der Werbung postulierten Ansprüchen hinters Licht geführt hat. Dreistigkeit ist heute oft nachgerade integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, der immer öfter mit einem Schulterzucken akzeptiert wird. Dreistigkeit wird aber nicht nur im poltischen und wirtschaftlichen Leben, sondern auch immer öfter im Leben jedes Einzelnen zum bestimmenden Prinzip. Nicht so sehr, um sich das Überleben zu sichern, zumeist geht es um die Absicherung eines passablen Auskommens, um die Butter aufs Brot gleichsam.

Dazu gehören die, die sich Sozialleistungen in welcher Form auch immer erschleichen. Ein bisserl etwas verschweigen da, ein bisserl etwas hinzufügen dort, da ein Gutachten von einem befreundeten Arzt und dort ein unterstützendes Schreiben von einem gutmeinenden Bürgermeister.

Dazu gehören auch die mehr oder weniger großen Steuersünden, der Pfusch da und dort, das Verschweigen von dieser oder jener Einnahme oder die Angabe von falschen Zahlen.

Zur grassierenden Dreistigkeit gehört auch, wie sich ganze Berufsgruppen mit allen Mitteln Privilegien sichern, wie sie ihre eigene Situation und Bedürfnisse aufplustern und keinen Gedanken und keine Idee darauf verschwenden, wie sich das in Relation zu anderen ausnimmt.

Dreistigkeit mag es schon immer gegeben haben, die Ungeniertheit und die Breite aber, in der sie mittlerweile auftritt, ist neu. Zu tun hat das auch mit dem Staat. Auch dort scheint Dreistigkeit, wohl aus finanzieller Not, oft aber auch aus Lust und falsch verstandener Verantwortung für Bürgerinnen und Bürger, zum Prinzip geworden zu sein. Die Steuerbelastung wird als solche empfunden, die Bürokratie, der schier unendliche Wust an Vorschriften und Auflagen. Immer mehr fühlen sich davon gegängelt, ausgenutzt und ausgenommen. Immer mehr wollen das nicht mehr hinnehmen.

Dass als Gegenstrategie dann viele auch der Dreistigkeit verfallen und sich nehmen, was sie kriegen können, und nicht geben, was sie sollten, ist vor diesem Hintergrund durchaus nachvollziehbar. Eine taugliche Basis für eine gute Zukunft ist es freilich nicht.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 12. November 2015

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