Donnerstag, 10. September 2015

An die Wurzeln geht man nicht



Es ist nur wenige Wochen her, da herrschte, wenn das Wort Flüchtling auch nur in den Mund genommen wurde, meist Ablehnung, Angst gar, Vorsicht und Zurückhaltung. Mit den Menschen, die übers Meer, über die Türkei und über den Balkan aus dem Nahen Osten nach Europa drängten, wollte man hier tunlichst nichts zu tun haben. Nicht als Politikerin oder Politiker und auch nicht als Privater. Abwimmelnde Erklärungen überall, offene Ablehnung meist, zuweilen gar von Hass getragene Parolen. Überall sperrte man sich dagegen, zu helfen.

Wenige Wochen später ist das anders. Da flatterte dieser Tage den Bürgern einer kleinen Landgemeinde in Oberösterreich, wo in zwei Wochen Wahlen anstehen, eine Sonderausgabe der Gemeindezeitung ins Haus. Ein "Gäste-haus für Kriegsflüchtlinge" kündigten da der Bürgermeister und die Chefs der beiden großen Fraktionen im Gemeinderat gemeinsam an. "Wir sind uns sicher, dass wir alle in dieser schwierigen Situation unser Herz für die Menschen aus Kriegsländern nicht verschließen und die Ängste und Vorbehalte nicht in den Vordergrund stellen", heißt es da.

Vor Monatsfrist hätte es das in dieser Form wohl nicht gegeben. Inzwischen ist diese Initiative eine von vielen. "Respect Refugees" tönt es allerorten. Aus der Ablehnung wurde nachgerade so etwas wie eine Welle von Hilfsbereitschaft. Auf einmal funktioniert, was so lange nicht funktionieren zu können schien. Man zeigt auf und man fürchtet sich nicht mehr vor Kritik oder gar gesellschaftlicher Ächtung. Immer mehr wollen helfen. Private, Medien, Organisationen und Unternehmungen bis hin zu den ÖBB werden aktiv. Und selbst der noch vor wenigen Wochen so heftig kritisierten Verwaltung und der Polizei wird plötzlich dickes Lob gespendet und Professionalität bescheinigt.

Die Stimmung dreht sich im Land. Auch der Stil der Diskussion. Die Verantwortung wird angenommen. Die aufdräuenden Fragen werden nicht mehr kleingeredet oder ungebührlich aufgeblasen, sondern ganz sachlich als Herausforderungen begriffen, die es zu lösen gilt.

Klein sind die freilich nicht. Wenn der Zustrom so anhält, wie heuer, wächst Österreich jedes Jahr eine Stadt in der Größenordnung von Innsbruck, das 120.000 Einwohner zählt, zu, heißt es inzwischen selbst in Leitartikeln seriöser Zeitungen. "Wo sollen diese Menschen wohnen", wird da gefragt. Welche Jobs sollen die Zugewanderten ausüben und was ist mit den benötigen Schulplätzen.

Der Wandel im Meinungsklima macht Mut, dass Antworten auf diese Fragen gefunden werden. Man kann nur wünschen, dass die Politik diese Stimmung in nachhaltige Lösungen gießen kann, die für alle tragbar sind, mit denen alle leben können und die vielleicht sogar zur Chance werden. Und für die sich niemand zu schämen braucht.

Noch ist man davon freilich weit entfernt. Und ohne internationale Abstimmung wird es nicht gehen. Längst ist das Thema Flüchtlinge zu einer Nagelprobe für Europa geworden. Vor allem Deutschland wird nicht immer so offen sein, wie in den vergangenen Tagen. Es verwundert freilich, dass in der öffentlichen Diskussion mögliche Lösungen für das Flüchtlingsproblem direkt an seinen Wurzeln - den Zuständen in Syrien und in den anderen Ländern selbst, aus denen die Menschen nach Europa drängen -eine völlig untergeordnete Rolle spielen. Gesellschaftlicher oder gar politischer und diplomatischer Druck sind kaum zu erkennen. Die Vereinigten Staaten und Russland blockieren sich wie eh und je gegenseitig und die UNO tut sich schwer, Bewegung in so etwas wie einen Friedensprozess zu bringen.

Was mit den Flüchtlingen und was in Europa passiert, scheint den Verantwortlichen außerhalb des alten Kontinents ohnehin einerlei. Die Probleme Europas spielen für sie keine Rolle. Erst in der Vorwoche ließ das Weiße Haus keinen Zweifel dran, dass man nicht willens ist, in den USA Flüchtlinge aufzunehmen.

Solange dieses Denken herrscht, so lange Europa auf der internationalen Bühne so brustschwach gegenüber den Supermächten ist, und solange es zu keinem internationalen Schulterschluss kommt, bleibt die Lage freilich fragil. Und das wird wohl lange so bleiben, bedenkt man, wie schwierig und langwierig es war, in Österreich etwas zu bewegen und wie schwierig es ist, die EU-Staaten auf eine halbwegs gemeinsame Linie zu bringen.

Umso wichtiger ist wohl Sachlichkeit und Nüchternheit im Umgang mit dem Thema. Und ein starkes Europa auf der internationalen Bühne.

Gmeiner meint - Raiffeisenzeitung, 10. September 2015

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