Montag, 24. August 2015

Agrarpolitik hat Bauern in der Krise wenig zu bieten



Österreichs Landwirtschaft steckt in einer Krise. Die Agrarpolitik ist überfordert. Außer Ankündigungen bietet sie den Bauern wenig.

Die Bauernmilchpreise sind derzeit um rund ein Viertel niedriger als vor einem Jahr. Und das seit Monaten. Auch die Preise für Schweinefleisch befinden sich im Sturzflug – seit einem Jahr, seit Putin Russlands Grenzen für Nahrungsmittelimporte dichtgemacht hat. Was die Ackerbauern für ihre Produkte bekommen, ist weit von dem entfernt, was ihnen noch vor einigen Jahren prognostiziert wurde. Und vielerorts sorgt die Dürre für zusätzliche Probleme.Die Bauern versuchen nach Kräften, damit zurechtzukommen. Die Agrarpolitik ist ihnen dabei wenig Hilfe. Außer, dass man ab und zu „Alarm“ schreit und auch einmal mit Demonstrationen droht, hat man den Bauern wenig Greifbares zu bieten.

Was bleibt, ist der Eindruck, mit der Situation überfordert zu sein. Monate sind ein zu kurzes Maß, um die Zeit zu bemessen, die es dauert, bis ein Problem überhaupt erkannt und – was noch wichtiger ist – auch als solches akzeptiert wird. Bis zu Vorschlägen oder Lösungsansätzen vergeht noch einmal viel zu viel Zeit, in der die Bauern auf sich allein gestellt sind und zuschauen müssen, wie es mit ihnen bergab geht. Als die Milchpreise längst im Keller waren, kündigte die heimische Agrarspitze vor der Sommerpause eine Marketingoffensive für den Herbst an – und verabschiedete sich dann in den Urlaub. Als Russland keine Milch, keinen Käse und kein Fleisch mehr importierte, reiste man flugs publikumswirksam nach China und präsentierte den dortigen Markt als die Zukunft. Bis heute hat sich nichts getan, weil es die nötigen Zulassungen immer noch nicht gibt.

Die breite Öffentlichkeit bekommt davon kaum etwas mit. Dort pflegt man ein Bild der Landwirtschaft, das wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Diesem Bild gerecht zu werden ist viel zu oft Strategie der Agrarpolitik. Die Bauern hingegen haben das Gefühl, dass die Agrarpolitik ihren Bedürfnissen eher entgegensteht, ihnen die Arbeit durch Auflagen und Bürokratie unnötig erschwert und sie so in ihrer Konkurrenzfähigkeit schwächt.

Auf diese Weise ist die Landwirtschaft dabei, die Kontrolle über ihren ureigensten Bereich zu verlieren. Immer mehr wird von außen bestimmt, was die Bauern zu tun oder zu lassen haben. Der Lebensmittelhandel, NGOs und manche Medien, die Landwirtschaft als Marketinginstrument entdeckt haben, haben der Agrarpolitik in vielen Bereichen das Heft aus der Hand genommen. Der Markt, zumal jener, auf dem sich die Bauern mit ihren Produkten behaupten müssen, ist ihnen egal.

Salzburger Nachrichten - Leitartikel, Seite 1, 24. August 2015

Schweine bringen Bauern kein Glück



Nicht nur die Milchbauern haben mit niedrigen Preisen zu kämpfen. Auch die Schweinebauern schlagen Alarm. Für viele geht es um die Existenz. Und für Österreich um die Selbstversorgung.

Hans Gmeiner Salzburg. Das Schnitzel, Lieblingsessen der Österreicher, nährt die heimischen Schweinebauern nicht mehr. Um weniger als fünf Euro ist ein Kilogramm Schnitzelfleisch derzeit in Sonderangeboten zu haben. „Minus 42 Prozent“, damit wirbt dieser Tage eine große Handelskette. Bei anderen Fleischsorten ist es kaum anders. Der Markt ist übervoll. „Die Welt ist ein Dorf und das Dorf ist voll mit Schweinefleisch“, sagt Hans Schlederer, der als Geschäftsführer der Schweinebörse einen Großteil der heimischen Mastschweine vermarktet.

Derzeit bekommt der Landwirt gut 150 Euro für ein ausgewachsenes, 120 kg schweres Schwein. Das sind kaum 1,3 Euro pro Kilogramm – so wenig wie seit sieben Jahren nicht mehr. Und er muss mit weiteren Preisrückgängen rechnen. Bei Frischfleisch erweisen sich selbst Qualitätsprogramme wie das AMA-Gütesiegel oder die Betonung der Regionalität als wirkungslos. Gar nicht zu reden vom Fleisch für Verarbeitung und Gastronomie, das zwei Drittel des Marktes ausmacht. Denn dort zählt nichts als der Preis. Was auf die Teller und in die Würste kommt, muss vor allem billig sein, ist vielerorts die zentrale Strategie.

Verantwortlich für die Krise ist die russische Importsperre. Ersatzmärkte dafür zu finden, erweist sich als wesentlich schwieriger als angenommen. Vor allem für fettes Fleisch und geringwertigere Teile fehlt plötzlich der Markt. Verschärfend kommt dazu, das Deutschland in den vergangenen Jahren die Produktion auf 115 Prozent des Eigenbedarfs ausgebaut hat und entsprechend auf den Markt drückt.

Die Politik war und ist mit der Situation überfordert. Zu lange schaute man zu, anstatt rasch wirksame Entlastungsmaßnahmen zu starten. Eine Fleischeinlagerungsaktion der EU kam viel zu spät und blieb ohne Wirkung. Ohne Wirkung blieben auch die von der heimischen Agrarpolitik angekündigten Exportoffensiven. China und Südkorea würden den Russland-Ausfall kompensieren, versprach man den Bauern vor Jahresfrist. „Wir haben heute noch immer keine Zulassungen für China“, sagt Rudolf Großfurtner, Inhaber eines der größten Schlachtbetriebe des Landes darauf verärgert. Ganz abgesehen davon, dass alle großen Erzeugerländer der Welt auch um den chinesischen Markt buhlen. „Wegen ganz anderer Betriebsgrößen und wegen geringerer Auflagen erzeugen diese Länder Schweinefleisch um 20 bis 25 Prozent billiger als wir“, dämpft Schlederer zu große Erwartungen.

Gegenüber Ländern wie Kanada, Brasilien, aber auch Deutschland nehmen sich die Tierbestände, von denen Österreichs Schweinebauern ihr Auskommen erwirtschaften sollen, als mickrig aus. 60 Prozent von ihnen haben weniger als 400 Tiere im Stall. Im EU-Schnitt liegen 80 Prozent der Tierbestände jenseits der 400-Tiere-Grenze. In Dänemark und einigen anderen Ländern liegt der Anteil solcher Großbetriebe mit oft Zigtausenden Tieren sogar jenseits der 95 Prozent.

Die Markt- und Absatzkrise gilt inzwischen als existenzbedrohend. „Nur die Hälfte der Bauern hat die Kraft, auch die derzeitigen Krisenjahre zu überstehen“, sagt Schlederer. Dabei fegten schon die Schwierigkeiten der vergangenen Jahre wie ein Tsunami durch die heimischen Schweineställe. Gab es 1995, dem Jahr des EU-Beitritts, noch 112.000 Schweinehalter in Österreich, so sind es derzeit gerade einmal 26.000. Dagegen verblasst sogar der Strukturwandel in der Milchwirtschaft. Dort sank die Zahl der Produzenten in diesem Zeitraum von 81.000 auf 30.000.

Die Stimmung bei den Schweinebauern ist im Keller. Man hat das Gefühl, mit aussichtslosen Waffen und ohne große Aussichten auf Erfolg einen Kampf gegen eine übermächtige Konkurrenz führen zu müssen. Die Investitionstätigkeit ist fast bei null angelangt. Die Bauern fühlen sich im Stich gelassen. „Alle lehnen sich zurück, weil sie bekommen, was sie gerne haben – billige Produkte“, sagt Schlederer.

Die Branche und die Politik wirken ratlos. Nicht einmal mehr die großen Handelskonzerne mag man attackieren. „Der Handel setzt wenigstens auf österreichische Herkunft, da müssen wir schon froh sein“, sagt Großfurtner, in dessen Betrieb in Utzenaich jährlich 700.000 Schweine nicht nur aus Österreich geschlachtet werden.

Nun setzt man Hoffnungen darauf, dass die EU mit Russland über Schweinefleischprodukte verhandelt, die nicht auf der Embargo-Liste stehen, und auf Verständnis für die Lage der Schweinebauern. „In der Energieproduktion ist es nationales Ziel, von Importen unabhängig zu sein, und bei Lebensmitteln wie Schweinefleisch setzt man diese Unabhängigkeit aufs Spiel, als sei sie nichts wert“, sagt Oberösterreichs Landesrat Max Hiegelsberger, selbst Schweinebauer.

Seine Befürchtungen könnten bald Wirklichkeit werden. „Wenn es so weitergeht, werden wir bald einen Selbstversorgungsgrad von nur mehr 60 Prozent haben“, ist Großfurtner überzeugt. Noch sind es 100 Prozent.

Salzburger Nachrichten - Wirtschaft, 24. August 2015

Donnerstag, 20. August 2015

Das Große im Kleinen



"Hätte nie gedacht, dass Amnesty International je so einen Bericht über eine öffentl. Einrichtung in Ö. vorlegen würden", twitterte ZIB 2-Moderator Armin Wolf nach der Veröffentlichung des Berichts über die Zustände im Flüchtlingslager Traiskirchen. So wie dem Fernsehstar ging es wohl vielen in diesem Land. Amnesty-Berichte in dieser Schärfe kannte man bisher nur aus fernen Ländern, aus üblen Diktaturen, aus der Dritten Welt und aus Kriegsgebieten und Unruhezonen. Aber jetzt gibt es so einen Bericht auch aus Österreich. Einen Bericht von außen, von einer unverdächtigen Organisation, der man gemeinhin große Wertschätzung entgegenbringt und die in hoher Glaubwürdigkeit steht.

Der Bericht, der selbstredend auch Häme und plump-thumben Hurrapatriotismus - "unser Land wird besudelt" (ein Kolumnist der Kronenzeitung) - befeuerte, zeigt im Kleinen und Konkreten die Probleme, an denen dieses Land auch im Großen immer stärker leidet, mit denen es immer weniger zurecht kommt und die dafür sorgen, dass man dabei ist, international den Anschluss zu verlieren.

Was der Amnesty-Bericht aufzeigt, hemmt und bremst Österreich nicht nur in Traiskirchen, sondern überall. Die überbordende Bürokratie, die jedwedes Handeln und jedwede schnelle Reaktion auf Entwicklungen hemmt, das Herumschieben von Zuständigkeiten, das Herumdrucksen, das Aufschieben von Entscheidungen und das Wegschauen, die geringe Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, die dürftige Lösungskompetenz, diese alles blockierende "Mir-san-mir"-Mentalität und die oft dröhnende und feiste Selbstzufriedenheit. Vorwiegend verweigert man sich Entwicklungen und lügt sich mit Hingabe selbst in den Sack - überall und auf allen Ebenen. Das gilt im Umgang mit der Wirtschaft, mit der Bildung und für viele andere Bereiche, in denen man sehenden Auges in die Probleme schlittert, aber nicht fähig ist einzugreifen.

Der Amnesty-Bericht kann durchaus als Beleg dafür genommen werden, wie sehr Österreich den Bezug zur Realität verloren hat. Wie sehr es sich im selbstverliebt aufgebauten Wolkenkuckucksheim verloren hat. Diese Arroganz der Gutheit und Selbstüberschätzung, die in diesem Land grassiert, wie eine Seuche, ist mit Karacho an die Wand gefahren
- in Traiskirchen und überall im Land. Der Absturz in den internationalen Rankings ist Beleg dafür.

Der Amnesty-Bericht ist in diesem Jahr schon der zweite Bericht von neutraler Stelle , der klar wie nie zuvor Mängel in diesem Staat offenlegt. Im Frühjahr legte schon der Griess-Bericht die Finger in die Wunden in einer Klarheit, die man bisher in diesem Land nicht kannte, in dem zumeist nur wenig an die Öffentlichkeit kommt, das nicht parteipolitisch gefällig geföhnt und gebürstet ist.

Nichts würde dem Land und seiner Zukunft besser tun, als wenn die beiden Berichte tatsächlich Veränderungen anstoßen würden. Die Voraussetzungen sind gut. Der Griess-Bericht zur Hypo Alpe Adria brachte eine neue Qualität in die politische Diskussion. Der Amnesty-Bericht wird das hoffentlich auch tun.

Dass in Österreich immer mehr Menschen bereit sind, auf neuen Wegen mitzugehen und Veränderungen mitzutragen, zeigt die mittlerweile beachtlich anwachsende private Hilfe für die Flüchtlinge. Man zeigt auf gegen die blindwütige und undifferenzierte Menschenverachtung, man will nicht mehr wegschauen und sich wegducken, man will Veränderung.

Es gibt diesen guten Kern im Land. Beim Umgang mit den Flüchtlingen, in der Wirtschaft, in der Bildung. Es gibt die Leute in den Unternehmen, in den Schulen, in den Universitäten, in der Verwaltung. Es gibt sie überall und auf allen Ebenen. Jene, die genug haben vom verzopften Österreich, das nur mehr mit sich selbst beschäftigt ist.

Ihnen muss der Weg freigemacht werden von der Politik aber auch von all den anderen, die etwas zu sagen haben in diesem Land. Die Hoffnung lebt. Als gelernter Österreicher weiß man freilich - mehr ist es aber auch nicht. Es steht eher zu befürchten, dass Österreich die Zeichen dennoch nicht verstehen wird und noch tiefer hineinrutscht. Verantwortlich dafür sind die, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten an der Macht waren - und nicht die, vor denen man sich jetzt allerorten fürchtet, dass sie die Macht übernehmen, weil sie keine Scheu haben, die Stimmung der vergangenen Monate für sich zu nutzen.

Meine Meinung, Raiffeisenzeitung, 20. August 2015

Donnerstag, 13. August 2015

Agrarpolitik für Schlagzeilen und Kameras



In Frankreich sorgten jüngst die wütenden Bauernproteste gegen die schlechten Agrarpreise für Aufsehen. Im tirolerischen Gnadenwald prosteten zur gleichen Zeit der Tiroler und der Vorarlberger Kammerpräsident, der Tiroler Agrarlandesrat, der Präsident der Landwirtschaftskammer Österreich und der Landwirtschaftsminister bei der Jahrestagung der Milchwirtschaft lachend mit Milchgläsern in die Kameras und forderten angesichts des Preisverfalls auf dem Milchmarkt Maßnahmen zur Marktstabilisierung.

Dann ging man in den Urlaub. Im Herbst wolle man sich kümmern. Marketingoffensive und so.

Agrarpolitik auf österreichisch. Ein schönes Bild, ein paar Schlagzeilen, ein paar Sendeminuten im Fernsehen, ein paar Forderungen ein paar Ankündigungen, die den Bauern Aktivität suggerieren sollen und, wenn es eng wird, wie jüngst bei Milch und Schweinfleisch, ein paar Rundumschläge gegen die Vermarkter und den Handel. Und dann abtauchen. Hauptsache es gibt schöne Schlagzeilen und Fernsehberichte.

Das war bei den Maßnahmen gegen die Russlandkrise so, das war bei den Ankündigungen für Exportmöglichkeiten in China und Südkorea so und bei den zahllosen Milchgipfeln rund um das Quotenende beruhigt werden. Und das ist jetzt beim dramatischen Preisrutsch auf den Milch- und Schweinemärkten und den schlechten Preisen im Ackerbau nicht anders. 

Ob jemals umgesetzt und erreicht wurde, was man versprach? Ob stimmte, was man behauptete? Ob man für die Bauern wirklich etwas bewirkte? Etwas Zählbares gar? Offenbar einerlei. Hauptsache, man war in der "Zeit im Bild" und in der Kronenzeitung.

Österreichs Bauern leiden zunehmend unter dieser populistischen Agrarpolitik, die sich in bloßen Ankündigungen und Forderungen ergeht, die die Schuldigen und Verantwortlichen immer wo anders, nie aber bei sich selbst sucht und die sich viel zu oft über Schlagzeilen und Sendeminuten definiert. Denn damit ist ihnen wenig geholfen. Schon gar nicht in der Brieftasche.

Geholfen wäre ihnen, wenn sich die heimische Agrarpolitik wieder auf ihre ureigensten Aufgaben besinnen würde.  Und die sind, die Bauern in die Lage zu versetzen, mit den Märkten und dem Umfeld zurecht zu kommen, die Chancen, die sich bieten, zu nutzen und die Probleme, die sie schaffen, aufzufangen. Auf diesem breiten Feld aber hat die heimische Agrarpolitik, genau besehen, seit geraumer Zeit kaum mehr etwas zu bieten. Vor allem nichts Neues. Das kommt, wenn überhaupt, längst vom Handel.

Dabei gäbe es so viele Aufgaben. Die Steigerung der Wertschöpfung der heimischen Agrarexporte und damit der Preise wäre so eine Möglichkeit für die Bauern mehr herauszuholen. Oder die Gentechnikfreiheit, zu der die Bauern in Produktionsbereichen wie Milch gezwungen wurden, endlich zu Geld zu machen. Oder zumindest mit der in Österreich hausgemachten Bürokratie aufzuräumen.

Aber nichts, als bestenfalls - wie jüngst von den Agrarlandesräten - Ankündigungen und Forderungen, selbst dort, wo man Änderungen selbst in der Hand hätte.

Kürzlich lieferte ein Kammerpräsident ein eindrückliches Beispiel  für das Politikverständnis seiner Zunft. Wegen der niedrigen Erzeugerpreise forderte er von der EU Entlastungsmaßnahmen. Dass erst vor wenigen Monaten durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, der auch seine Parteifreunde zustimmten, viele der heimischen Milch- und Schweinebauern zum Preisdesaster zusätzliche Belastungen aufgelegt wurden, ließ er dabei unerwähnt.
 
Gmeiner meint - Blick ins Land 9 - 2015

Donnerstag, 6. August 2015

Ungleiche Verteilung



"Es ist auch deshalb schwer, Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitslosengeld fast genauso hoch ist, wie das Arbeitseinkommen", sagte Finanzminister Schelling dieser Tage in einem Interview und löste damit heftige Diskussionen aus. Vor dem Hintergrund immer lauter werdender Klagen ganzer Branchen über die Schwierigkeiten bei der Suche nach Personal auf der einen, und bei fast 400.000 Arbeitslosen und entsprechenden Kosten auf der anderen Seite, hat die Feststellung Schellings durchaus ihre Berechtigung. Sie lenkt, unbesehen, wie richtig sie ist, die Aufmerksamkeit auch auf ein Thema, über das in Österreich nur sehr ungern und nur sehr verhalten diskutiert wird: Die, die das Bruttosozialprodukt erarbeiten, die das System erhalten, und damit die, die den Sozialstaat ermöglichen, sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung verdammt wenige. Und sie werden im Verhältnis immer weniger.

Der Ausbau des Sozialstaates über die vergangenen Jahrzehnte, durchaus eine Erfolgsgeschichte, hat Ungleichgewichte erzeugt, die längst zur drückenden Last geworden sind.

Nicht nur für die öffentlichen Haushalte. Auch bei denen, die das System erhalten müssen, wächst der Unmut. Rund 100 Milliarden Euro kostet dem Land inzwischen der Sozialstaat jährlich, fast ein Drittel der Wirtschaftleistung und im Verhältnis so viel, wie in kaum einem anderen Land der Welt. Man leistet sich dafür viel. Sehr viel. Oft freilich nicht nur aus Gutheit, viel zu oft leider, weil es an Ideen und Konzepten mangelt. Und an Lösungen erst recht.

Dass von den 60-bis 65-Jährigen in Österreich nur 23,3 Prozent noch arbeiten, wiewohl das gesetzliche Pensionsalter bei den Männer nach wie vor bei 65 Jahren liegt, ist nur ein Beispiel dafür. Und dass es in vielen Branchen ganz normal ist, die Mitarbeiter außerhalb der Saison in die Arbeitslose zu schicken, ein anderes. Und dass manche lieber daheim bleiben, als zu arbeiten, wenn sie dafür fast das gleiche Geld kriegen, ist ihnen auch nicht zu verargen. "Wer ist eigentlich noch produktiv tätig?" fragte kürzlich die Kommentatorin einer Tageszeitung. "Der Anteil jener an der Bevölkerung, die am Tropf des Staates hängen und ganz oder teilweise ihren Lebensunterhalt vom Staat bezahlt bekommen, ist beträchtlich", befand sie. Nicht zu Unrecht, wie die Zahlen zeigen.

Die fast 400.000 Arbeitslosen und die gut 2,7 Millionen Pensionisten und Rentenempfänger bringen es zusammen inzwischen bereits auf mehr als 75 Prozent der Zahl der Erwerbstätigen, die in den einschlägigen Statistiken mit rund vier Millionen - bei einer Gesamtbevölkerung von knapp mehr als acht Millionen - angegeben werden. Zieht man die ab, die mit der Verwaltung des Landes beschäftigt und mithin nicht produktiv im eigentlichen Sinn sind, geht das Verhältnis rasch auf 50:50 zu.

Noch drastischer zeigt sich die ungleiche Verteilung der Lasten in diesem Land beim Steuerzahlen. Aktuelle Aufstellungen zeigen, dass rund 2,5 Millionen der insgesamt 6,8 Millionen Lohn- und Einkommenssteuerpflichtigen (sowohl Aktive Beschäftigte als auch Pensionisten) keinerlei Steuerzahlungen leisten müssen. Nicht genug damit. Transferleistungen aus dem staatlichen Füllhorn in Form von Beihilfen, Unterstützungen, Subventionen, Ausgleichszahlungen und vielen anderen ähnlichen Titeln machen selbst viele von denen, die Steuern zahlen müssen, zu Verdienern am System. Sie bekommen von Staat mehr, als sie an Steuern einzahlen. Gerade einmal 20 Prozent zählen ohne wenn und aber zu Netto-Einzahlern ins System. Sie sind es also, die einen Gutteil der Lasten schultern müssen.

Nun ist nur den Allerwenigsten in diesem Land vorzuwerfen, dass sie auf krummen Wegen zu Sozialleistungen kommen, sich die Arbeitslose erschleichen oder sich in die Frühpension tricksen. Arbeitslose, Pensionen und all das andere, das der Sozialsataat bietet, wird rechtens bezogen. Die Verantwortung für die nunmehrige Schieflage und die Auswüchse dafür vielmehr in der Politik und bei den dort Verantwortlichen zu suchen, die keine Lösungen finden und sich nie getrauten, die Bremse zu ziehen. Oder, wie Schelling, zumindest manches in Frage zu stellen.

Verantwortung ist aber auch bei jenen zu suchen, die sich seit Jahrzehnten beharrlich weigern, der Wirtschaft die nötigen Freiheiten zu geben, Vorschriften und Vorgaben zu entstauben, Lasten wegzuräumen und Perspektiven für die Zukunft zu schaffen. Sie verhindern damit die so notwendigen neuen Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum. Dumm nur, dass die da wie dort und überall sitzen.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 6. August 2015

Mittwoch, 5. August 2015

TTIP verunsichert Bauern



Während viele Landwirte unsicher sind, ist bei ihren Vertretern und den Verarbeitern ihrer Produkte die Stimmung eindeutig pro TTIP.

Hans Gmeiner
Salzburg. Hans Reisetbauer aus Axberg in Oberösterreich, Landwirt und einer der führenden Schnapsbrenner des Landes, lässt sich vom Trommelfeuer der NGOs und mancher Parteien und Medien gegen das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA nicht beeindrucken. „TTIP wäre für uns eine Erleichterung“, sagt er. „Das brächte einen kräftigen Schub, weil es einfacher wird, auf den Markt zu kommen.“ Er würde sich bürokratische und teure Doppelgleisigkeiten bei der Lizenzierung seiner Edelbrände ersparen, die er in die USA exportiert, hofft er. „Allein die Lizenz für eine einzige Schnapssorte kostet rund 750 US-Dollar.“

Nicht alle Bauern sehen das so positiv wie Reisetbauer. Die Landwirtschaft gibt sich in der öffentlichen Diskussion sehr zurückhaltend. Viele Landwirte haben Angst vor der Billigkonkurrenz durch US-amerikanische Großfarmen, fürchten, dass Produktionsstandards aufgegeben werden, und glauben, dem Preisdruck nicht standhalten zu können – ähnlich wie seinerzeit vor dem EU-Beitritt.

Franz Sinabell vom Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) hat Verständnis für die Sorgen der Bauern. „TTIP macht das Leben für die Bauern nicht leichter“, er fügt aber hinzu: „Ich glaube nicht, dass es der heimischen Landwirtschaft das Genick brechen wird.“ Im Vergleich zum EU-Beitritt vor 20 Jahren sei TTIP nur eine „kleine Umstellung“.

Unbegründet sind die Sorgen vieler Bauern nicht. Eine Studie des deutschen ifo-Institutes für Wirtschaftsforschung geht davon aus, dass die Agrarimporte aus den USA nach Europa um 120 Prozent steigen, während die Exporte von landwirtschaftlichen Produkten der EU in die Vereinigten Staaten nur um 60 Prozent zulegen, wenn Zölle und andere Handelshemmnisse um ein Viertel verringert werden.

Druck sieht Sinabell insbesondere auf die Ackerbauern zukommen. „Durch eine Marktliberalisierung kommen noch größere Mengen etwa an Mais, Zucker oder Stärkeprodukten nach Europa“, sagt er. „Das erzeugt starken Anpassungsdruck.“

Den sehen auch die Schweinebauern auf sich zukommen. In den USA liegen die Produktionskosten um rund ein Viertel unter denen Europas. „Die großen Erzeuger scharren schon in den Startlöchern, um den europäischen Markt zu erobern“, heißt es dort. Keine Angst, und schon gar nicht vor dem viel zitierten Chlorhuhn, hat man hingegen bei den Geflügelbauern, deren Produktion nur einen Teil des Marktes abdeckt. „Die heimischen Betriebe erzeugen praktisch nur für den Frische-Markt“, sagt Michael Wurzer vom Geflügelverband. „Und da haben wir ganz sicher keine Chlorhuhn-Konkurrenz zu befürchten. Der Handel und die Konsumenten legen auf die österreichische Herkunft Wert.“

Insgesamt sieht Sinabell die Erzeuger von tierischen Produkten wie Fleisch oder Milch sowie auch die Weinbauern eher auf der Gewinnerseite. „Je höher der Verarbeitungsgrad der agrarischen Produkte, desto besser die Aussichten“, sagt der Wirtschaftsforscher. „Österreich und Europäer insgesamt haben gute Karten.“ Sie hätten starke Marken und eine leistungsfähige Lebensmittelindustrie. „Dazu kommt, dass die Geschmäcker diesseits und jenseits des Atlantiks zusammenpassen.“

Schon jetzt kaufen die US-Amerikaner wesentlich mehr Nahrungs-und Genussmittel in Österreich als umgekehrt. Die USA sind nach Deutschland und Italien Österreichs wichtigster Abnehmer für Lebensmittelexporte. Auch wenn mehr als die Hälfte der Exporte von insgesamt 437 Mill. Euro auf Red Bull entfallen, das in der Rubrik Getränke geführt wird, bleibt die Handelsbilanz klar positiv. Aus den USA werden derzeit nur Agrarwaren im Wert von 47,2 Mill. Euro importiert. Das entspricht gerade einmal einem halben Prozent der gesamten österreichischen Agrarimporte.

Bei den Verarbeitern und Vermarktern der heimischen Agrarprodukte herrscht im Gegensatz zu den Bauern eine uneingeschränkte Pro-TTIP-Stimmung. „Wir exportieren schon jetzt fast die Hälfte der Produktion, Tendenz steigend. Wir brauchen gute und kaufkräftige Exportmärkte wie die USA“, lässt etwa Hans Költringer vom Molkereiverband keinen Zweifel daran, dass die Milchverarbeiter das Abkommen nicht nur für notwendig, sondern auch für eine große Chance halten. Ins gleiche Horn stößt auch Katharina Koßdorff, die Geschäftsführerin des Fachverbands der Lebensmittelindustrie. „Wir begrüßen EU-Initiativen zur Verbesserung der Exportmöglichkeiten grundsätzlich. Und dazu gehört auch TTIP.“ Auch für Reinhard Wolf, Generaldirektor der Raiffeisen Ware Austria, dem wichtigsten heimischen Vermarkter von Getreide und Mais, ist TTIP nur zu begrüßen. Anders als Sinabell meint er aber, dass auch die Erzeuger von Rohstoffen wie Getreide und Mais vom Freihandelsabkommen profitieren können. „Diesen Bauern kommen die zusätzlichen Absatzmöglichkeiten der Verarbeiter und Veredler indirekt über eine verstärkte Nachfrage zugute.“

Dieser Optimismus gilt freilich nur unter der Voraussetzung, dass „sauber verhandelt“ wird, wie Költringer formuliert, und die Standards gesichert werden. TTIP dürfe kein Freibrief für gentechnisch veränderte Produkte oder hormonbehandeltes Fleisch sein. Und um Marktverwerfungen zu vermeiden, hält man Sondervereinbarungen wie Kontingente oder spezielle Zölle für bestimmte Produktgruppen für einen gangbaren Weg. Auch in den Schutz von Herkunftsbezeichnungen setzt man Hoffnungen.

Für die Agrarpolitiker ist der Spagat zwischen den Sorgen der Bauern und den Träumen der Verarbeiter eine große Herausforderung. Schon vor Monaten formulierte Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter die Marschrichtung: „TTIP bringt große Chancen für die Landwirtschaft, es gibt aber rote Linien, für die es keinen Verhandlungsspielraum gibt.“ Ob die halten werden, muss sich freilich erst zeigen. Denn geeinigt haben sich die Verhandler in Brüssel und Washington bisher auf nichts – weder auf das, was Bauern und Lebensmittelindustrie verlangen, noch auf irgendetwas, was oft so schlagzeilenträchtig befürchtet wird.

Salzburger Nachrichten - Wirtschaft, 5. August 2015
 
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